Freitag, 30. November 2007
Die Welt der Insekten birgt noch viele Rätsel
Dr. Günter Bechly
Interview mit dem Biologen und Paläontologen Dr. Günter Bechly, wissenschaftlicher Kurator am Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart und dort Sektionsleiter für die Bereiche Bernstein und fossile Insekten
http://www.bernstein.naturkundemuseum-bw.de/odonata/gbechly.htm
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Frage: Herr Dr. Bechly, wie, wann und wo wurde Ihr Interesse an Bernstein und fossilen Insekten geweckt?
Antwort: Mein Interesse an Insekten wurde schon in frühester Kindheit geweckt. Eines der ersten Bücher, das ich von meinen Eltern geschenkt bekam, war ein Bilderbuch über Insekten und dieses faszinierte mich offenbar so sehr, dass „Wasserfenchelrüssler“ (eine Rüsselkäferart) zu den ersten Tiernamen gehörte, die ich nach der WauWau-Phase gelernt habe. Andere prägende Kindheitserlebnisse waren z. B. der Kinofilm „Die letzten Paradiese“ von Eugen Schumacher und die eigene Suche nach Fossilien in den Holzmadener Ölschiefern sowie natürlich auch die Besuche von Museen und Zoologischen Gärten. Auch die zahlreichen Naturfilme im Fernsehen hatten einen nicht unerheblichen Einfluss auf mich. Mein Interesse an Natur im Allgemeinen und an Insekten und Fossilien im Besonderen begleitete mich somit meine ganze Jugend und war dann auch der Grund für meinen entsprechenden Studienwunsch. Im Rahmen meines Studiums an der Universität Tübingen war es eine besondere Lehrerpersönlichkeit (Dr. Gerhard Mickoleit, der inzwischen im Ruhestand weilt), die mein Interesse in wissenschaftliche Bahnen gelenkt hat und meine Begeisterung für die Erforschung der Stammesgeschichte und Evolution der Insekten geweckt hat.
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Frage: Wer war der Stammvater der Insekten?
Antwort: Der eigentliche „Stammvater“ im engeren Sinne war diejenige, noch unbekannte und längst ausgestorbene Gliedertierart, aus deren Aufspaltung die beiden Hauptgruppen der heutigen Insekten in der weiteren Evolution hervorgingen. Diese Tierart lebte im Oberen Silur oder Unteren Devon vor etwa 430 Millionen Jahren und war bereits sechsfüßig, ungeflügelt und hatte nur ein Antennenpaar. Sie lebte in einem feuchten Lebensraum an Land, wo sie vermutlich schon über Tracheen atmen konnte. Es handelte sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine kleine, bodenlebende Gliedertierart, ähnlich den heutigen Springschwänzen, Doppelschwänzen und Felsenspringern. Diese ganzen Aussagen können wir durch einen genauen Vergleich und eine Bewertung der Merkmale der heutigen Insekten treffen, die mit den Methoden der Phylogenetischen Systematik des deutschen Zoologen Prof. Willi Hennig eine Grundplan-Rekonstruktion des hypothetischen Ahnen erlauben, selbst wenn entsprechende Fossilfunde noch völlig fehlen.
Was die weiter entfernte Herkunft der sechsfüßigen Insekten angeht, so glaubte man früher, dass diese unter landlebenden und tracheenatmenden Tausendfüßlerverwandten des Silur und Devon zu finden gewesen seien. In der Zwischenzeit hat sich jedoch durch Erbgutuntersuchungen sowie neue Erkenntnisse aus der vergleichenden Anatomie und Embryologie gezeigt, dass die nächsten Verwandten der Insekten nicht die Tausendfüßer, sondern die Krebstiere sind. Insekten sind somit landlebende, abgewandelte Krebse (ähnlich wie die Asseln, aber nicht näher mit diesen verwandt) und stammen ursprünglich (also noch vor dem Landgang) von einer meereslebenden, krebstierartigen Ahnenform ab, die vermutlich im Silur lebte. Vor einigen Jahren wurde mit Devonohexapodus bocksbergensis ein solches marines (vermeintliches) Proto-Insekt aus den unterdevonischen Hunsrückschiefern von Bundenbach beschrieben, aber nach neueren Erkenntnissen war diese Zuordnung wohl etwas verfrüht und sehr wahrscheinlich unzutreffend (zudem ist Devonohexapodus bocksbergensis wahrscheinlich identisch mit dem schon früher aus den gleichen Schichten beschriebenen Gliedertier Wingertshellicus backesi).
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Frage: Aus welcher Zeit stammen die ältesten fossilen Insekten?
Antwort: Das älteste vollständig bekannte fossile Insekt ist noch immer der Springschwanz Rhyniella praecursor aus den unterdevonischen (396-407 Millionen Jahre) Hornsteinen von Rhynie in Schottland. Reste von etwas moderneren, flügellosen Insekten, wie z. B. Felsenspringern und Silberfischchen, wurden in etwas jüngeren devonischen (390 Millionen Jahre) Schichten von Gaspé Bay/Quebec in Kanada und dem Oberdevon (379 Millionen Jahre) von Gilboa/New York in Nordamerika gefunden, sind aber teilweise in ihrer Deutung noch umstritten. Auch aus den Rhynie-Hornsteinen gibt es einen weiteren Rest eines flügellosen Insektes, nämlich das Bein eines vermutlichen Felsenspringers oder Silberfisches, der Leverhulmia mariae genannt wurde.
Lange Zeit glaubte man, dass es sich bei dem Fossil Eopterum devonicum aus dem Mittel-Devon von Russland um ein Ur-Insekt mit extrem primitiven Flügeln handele, bis sich vor einigen Jahren leider herausstellte, dass es sich bei den vermeintlichen Flügeln in Wirklichkeit nur um ein isoliertes Fragment vom Schwanzfächer eines Krebses handelt. Die ältesten bekannten geflügelten Insekten sind die Palaeodictyoptere Delitzschala bitterfeldensis aus dem Unteren Namurium (etwa 324 Millionen Jahre alt) von Ostdeutschland und eine unbenannte Urheuschrecke (Archaeoptera) gleichen Alters aus der Tschechischen Republik. Es gibt allerdings ein paar renommierte Wissenschaftler, die der Auffassung sind, dass es sich bei den fragmentarischen Fossil Rhyniognatha hirsti aus den oben erwähnten Rhynie-Hornsteinen um eine Kieferkaulade (Mandibel) eines geflügelten Insektes handeln könnte und somit die Evolution der Fluginsekten sehr viel früher stattgefunden habe als gemeinhin noch angenommen wird. Andere Spezialisten sind jedoch nicht einmal davon überzeugt, dass es sich bei diesem Fossil überhaupt um den Kiefer eines Insektes handelt.
Man sieht an diesen Beispielen auch, dass es in der Wissenschaft oft weniger um „festzementiertes“ Faktenwissen geht, sondern um die kritische Diskussion unterschiedlicher Hypothesen. Solche innerwissenschaftlichen Debatten werden von den Anhängern der biblischen Schöpfungsgeschichte, die derzeit nicht nur in Amerika auf dem Vormarsch sind und einem naturalistischen Weltbild den Kampf angesagt haben, natürlich immer wieder gerne aufgegriffen, um den Evolutionsforschern die Unsicherheit ihrer Thesen vorzuwerfen. In Wahrheit ist aber gerade diese gewisse Unsicherheit die große Stärke der Naturwissenschaften gegenüber dogmatischen Glaubenssystemen, denn gerade sie gestattet es ja falsche Hypothesen früher oder später durch kritische Überprüfung zu erkennen und zu verwerfen. Noch kein Kreationist konnte aber ein vernünftiges Kriterium nennen, bei dessen Erfüllung er seinen Glauben revidieren und die Evolutionstheorie als plausiblere Erklärung akzeptieren würde, während es sehr viele theoretisch denkbare Umstände gäbe, die die Evolutionstheorie ins Wanken bringen könnten: Beispielsweise eine ungeordnete stratigraphische Verteilung von sehr einfachen und sehr komplexen fossilen Lebewesen in sehr alten und sehr jungen geologischen Ablagerungen, oder das Vorhandensein völlig unterschiedlicher Mechanismen der Vererbung bei verschiedenen Pflanzen und Tieren, oder eine völlig chaotische statt weitgehend hierarchische Verteilung der Merkmalsähnlichkeiten zwischen den Organismengruppen, etc. Alle diese Befunde wären mit der darwinschen Evolutionstheorie unvereinbar, während die biblische Schöpfungstheorie mit jeder denkbaren Beweislage gleichermaßen vereinbar wäre. Letzteres ist aber ein typisches Kennzeichen für nichtssagende Theorien, vergleichbar der humorvollen Bauernregel „Kräht der Hahn auf dem Mist, ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist“.
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Frage: Wie haben manche frühe Insekten das Fliegen gelernt?
Antwort: Aus welchen Vorläuferorganen die Insektenflügel entstanden sind, und auf welche Weise das Flugvermögen der Insekten evolvierte, ist unter Fachleuten noch immer eines der umstrittensten Themen in der Evolutionsgeschichte der Insekten.
Laut der üblichen Lehrbuchauffassung sind die Flügel aus tragflächenartigen Verbreiterungen der Rückenschilder der Brustsegmente hervorgegangen und dienten anfangs nur dem Gleitflug oder dem fallschirmartigen Abbremsen von Sprüngen. Für diese These spricht insbesondere die Embryonalentwicklung heutiger Fluginsekten.
Eine alternative Theorie besagt, dass Flügel ursprünglich kiemenartige Beinanhangsstrukturen waren, wie sie heute noch am Hinterleib der wasserlebenden Eintagsfliegenlarven zu finden sind. Diese These stützt sich insbesondere auf frühe fossile Insektenlarven aus dem Erdaltertum (Karbon und Perm), deren Flügelscheiden offenbar beweglich waren und den, oft ebenfalls vorhandenen, kiemenartigen Hinterleibsanhängen verblüffend ähnelten.
Eine Entscheidung zwischen diesen beiden Theorien ist bislang noch nicht sicher möglich, da es für beide Alternativen eine ganze Reihe von Pro- und Contra-Argumenten gibt. Von einer Lösung dieser Frage hängen aber natürlich auch die Szenarien ab, die man für die Evolution des Flugvermögens entwickeln könnte. Sicher ist jedoch, dass das Flugvermögen eine ganze Reihe von Vorteilen bot: Von der leichteren Suche nach Nahrung und Geschlechtspartnern, über das erfolgreichere Fluchtvermögen vor Fressfeinden, bis hin zu besseren Durchmischung des Genpools durch höhere Mobilität, die natürlich auch die Suche nach geeigneten Lebensräumen erleichtert, wenn es zu einer Verschlechterung der Bedingungen im Heimatlebensraum kommt.
Auffällig ist übrigens auch eine enge Beziehung zwischen der Evolution des Flugvermögens bei Insekten und der Evolution und Perfektionierung des Netzbaues bei Spinnen.
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Frage: Die libellenähnliche Meganeura monyi aus der Karbonzeit vor etwa 300 Millionen Jahren erreichte eine Flügelspannweite von etwa 70 Zentimeter und gilt angeblich als größtes Fluginsekt der Erde. Gibt es heute ähnlich große Insekten?
Antwort: Meganeura monyi aus der Steinkohlezeit Europas wurde in der Tat sehr groß und erreichte über 60 cm Flügelspannweite. Noch größer wurde jedoch die mit ihr verwandte Riesenlibellenart Meganeuropsis permiana aus dem Unteren Perm von Nordamerika, die mit fast 75 cm Spannweite das größte bekannte Insekt aller Zeiten war.
Die größte Flügelspannweite heutiger Insekten besitzt mit bis zu 32 cm ein Nachtschmetterling, die brasilianische Rieseneule Thysania agrippina. Nur wenig kleiner ist der Atlas-Seidenspinner mit bis zu 30 cm Flügelspannweite und der Vogelfalter Ornitoptera alexandrae aus Papua-Neuguinea, der mit bis zu 28 cm Flügelspannweite der größte Tagschmetterling der Welt ist.
Die allergrößte heutige Insektenart ist mit maximal 36 cm Körperlänge die südostasiatische Gespenstschrecke Pharnacia kirbyi. Den ersten Platz im Wettbewerb um das schwerste lebende Insekt hält jedoch ein „schwangeres“ Weibchen der neuseeländischen Weta-Grille Deinacrida heteracantha, das nachweislich ein Körpergewicht von 71 Gramm erreicht hat, wobei „normale“ Exemplare dieser Spezies nur 19-43 Gramm wiegen. Der südamerikanische Herkuleskäfer Dynastes hercules hat eine Körperlänge von 16 cm und einer Flügelspannweite von 22 cm. Der Amazonas-Riesenbockkäfer Titanus giganteus wird mit maximal 16,7 cm manchmal sogar noch etwas länger (gelegentliche größere Angaben von über 20 cm beziehen die Fühler mit ein, während hier von mir die stets die Kopf-Rumpf-Länge verwendet wird). Das gleiche gilt für die südamerikanische Bockkäferart Macrodontia cervicornis, die über 16 cm lang werden kann und zudem riesige Larven besitzt. Auch die Larven des afrikanischen Goliathkäfers Goliathus goliathus, der als erwachsenes Tier maximal 11 cm lang wird, werden mit bis zu 13-15 cm Länge extrem groß und angeblich bis zu 100 Gramm schwer (sichere Nachweise kenne ich bis 73 Gramm). Gewichtsangaben von 70-100 Gramm, die in manchen polulärwissenschaftlichen Arbeiten für die größten Käferarten angegeben werden, konnten bislang nicht wissenschaftlich bestätigt werden und sind sehr wahrscheinlich falsch. Auch die größten Bockkäfer, Herkuleskäfer und Goliathkäfer erreichen als erwachsene Tiere (Imago) offenbar kaum ein Lebendgewicht über 45 Gramm.
Forscher konnten nachweisen, dass noch größere Insekten heute nicht mehr lebensfähig wären, da deren Maximalgröße offenbar durch die Leistungsfähigkeit des Tracheen-Atmungssystemes bei bestimmten Sauerstoffkonzentrationen begrenzt ist. Es lag daher nahe zu vermuten, dass die riesigen Libellen und anderen Gliedertiergiganten der Steinkohlewälder nur durch einen deutlich höheren Sauerstoffgehalt zur damaligen Zeit entstehen konnten, der auch geologisch nachweisbar ist (Sauerstoffkonzentrationen: Karbon 35 %, Mittel-Perm 25 %, Ober-Perm 12-15 %, Trias 18 %, heute 21 %). Sie verschwanden dann zum Oberperm, als es durch eine globale Klimakatastrophe zu einem extrem geringen Sauerstoffgehalt der Atmosphäre kam, der vor 252 Millionen Jahren zu einem der größten Massenaussterben der Erdgeschichte führte, in dessen Verlauf damals 75 % aller Landtierarten und über 90 % aller Meerestierarten ausstarben. Diese Katastrophe wurde vermutlich verursacht durch den gigantischen Vulkanismus der sibirischen Flutbasalte, welcher über den Treibhauseffekt zu einer nachhaltigen Klimaerwärmung führte, die wiederum die gefrorenen Methanhydrat-Vorkommen am Meeresboden freisetzte, welche durch Oxidation den atmosphärischen Sauerstoff verbrauchten. Unabhängig vom Problem des Sauerstoffgehaltes sind extrem große Fluginsekten aber im weiteren Verlauf der Evolution wohl auch deshalb nie wieder entstanden, weil es seit der Trias fleischfressende, fliegende Wirbeltiere (zuerst Flugsaurier, dann später Vögel und zuletzt die Fledermäuse) gab, die die Nische besetzen und die Lüfte für solche trägen Rieseninsekten viel zu unsicher machten.
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Frage: In der Gegend von Solnhofen und Eichstätt schwirrten in der späten Jurazeit vor etwa 150 Millionen Jahren stattliche Libellen mit einer Flügelspannweite bis zu 21 Zentimeter durch die Gegend, in der auch Urvögel, Flugsaurier und Dinosaurier lebten. Kann sich eine jetzige Libelle mit ihnen messen?
Antwort: Nicht ganz, aber es gibt in der Tat auch heute noch recht große Libellen, die zumindest annähernd solche Flügelspannweiten erreichen. Petalura ingentissima aus Australien ist die schwerste lebende Libelle und gehört zur Unterordnung der Großlibellen (= Anisoptera). Sie erreicht jedoch „nur“ eine maximale Flügelspannweite von etwa 16 cm. Kurioserweise gehört die größte heute lebende Libelle zur Unterordnung der Kleinlibellen (Zygoptera). Es handelt sich um Megaloprepus caerulatus (Familie Pseudostigmatidae) aus den Regenwäldern von Mittelamerika und dem nördlichen Südamerika, die eine Flügelspannweite von bis zu 19 cm erreichen soll (ich selbst kenne jedoch nur nachgewiesene Größen bis zu 17,5 cm). Die lebende Libelle mit der größten Körperlänge kommt ebenfalls aus der neotropischen Familie Pseudostigmatidae. Es ist Mecistogaster linearis mit einer Kopf-Rumpf-Länge von bis zu 13,5 cm.
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Checkliste über Libellen aus den Solnhofener Plattenkalken
Frage: Ist bekannt, wie viele Gattungen oder Arten fossiler Libellen bisher in den berühmten Solnhofener Plattenkalken entdeckt wurden?
Antwort: Ja, ich führe dazu eine inoffizielle Checkliste, die ich auf meiner Website (Internetadresse siehe unten) allgemein verfügbar gemacht habe. Insgesamt sind bislang 56 Arten fossiler Libellen aus den Solnhofener Plattenkalken bekannt, von denen jedoch sechs Arten noch unbeschrieben und unbenannt sind. Ein knappes Dutzend der beschriebenen Arten wurde zwar wissenschaftlich benannt, ist aber von recht zweifelhaftem Status (Nomen dubium), da die alten Originalbeschreibungen unvollständig sind und das zu Grunde liegende Fossilmaterial nicht mehr auffindbar ist.
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Frage: Fragen häufig Sammler bei Ihnen an, ob Sie fossile Insekten identifizieren können und ist dabei schon eine überraschende Entdeckung gelungen?
Antwort: Solche Anfragen gibt es natürlich regelmäßig. Meist handelt es sich um bekannte und häufige fossile Arten, aber in ein paar Fällen waren durchaus schon neue Arten dabei. Eine wissenschaftliche Beschreibung ist jedoch nur dann möglich, wenn das Typusexemplar, also dasjenige Fossil, auf dem die Beschreibung beruht und das quasi als „Eichmaß“ für die Artzugehörigkeit anderer Fossilien dient, in einem öffentlichen Museum verwahrt wird. Ich habe allerdings die Erfahrung gemacht, dass viele Privatsammler durchaus bereit sind solche wissenschaftlich wertvollen Stücke einem Museum zu stiften, wenn z.B. im Gegenzug die neue Art als „kleines Dankeschön“ nach ihnen benannt wird.
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Frage: Das Staatliche Museum für Naturkunde in Stuttgart besitzt eine sehr umfangreiche Bernsteinsammlung. Enthalten viele dieser Bernsteine wissenschaftlich wertvolle fossile Insekten?
Antwort: Ja, denn für unsere Sammlung wurden natürlich insbesondere Stücke erworben, die bemerkenswerte Einschlüsse enthalten. Daher ist der Anteil wissenschaftlich wertvoller Insekteneinschlüsse in Museensammlung in der Regel überdurchschnittlich hoch. Wenn Sie jedoch selbst, z. B. am Ostseestrand, Bernstein suchen, so müssen sie unter Umständen Hunderte von Stücken finden, bevor sie einen gut erhaltenen Insekteneinschluss entdecken, und bei diesem wird es sich dann in 90 % der Fälle „nur“ um eine kleine Mücke, eine Ameise, eine Blattlaus oder eine parasitische Wespe handeln, die die Mehrzahl aller Einschlüsse stellen. Alle anderen Insektengruppen sind ausgesprochene Raritäten. Leider erlaubt die angespannte Etatlage in den Museen heute kaum noch den Ankauf besonderer Bernsteinstücke, so dass sehr viel wissenschaftlich wertvolles Material für immer in privaten Sammlungen verschwindet.
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Frage: Wie oft konnten Sie bisher unbekannte fossile oder rezente Insektenarten identifizieren?
Antwort: Oje, diese Frage habe ich befürchtet und muss gestehen, dass ich darüber nie genau Buch geführt hatte. Zum Glück gibt es aber heute einschlägige Datenbanken im Internet (z. B. EDNA), die mir bei der Recherche zur Beantwortung dieser Frage sehr halfen. Insgesamt wurden von mir als Autor oder Co-Autor bislang etwa 120 fossile Insektenarten beschrieben, vor allem aus den mesozoischen Plattenkalken von Solnhofen, Nusplingen, Crato und Liaoning sowie von tertiären Bernsteininklusen. Hinzu kommen noch ein fossiler Eichelwurm aus dem Solnhofener Plattenkalk sowie zahlreiche höhere Taxa auf Familiengruppenniveau oder darüber.
Manchmal führt eine wissenschaftliche Arbeit aber auch zu gegenläufigen Resultaten, nämlich einer Verringerung der bekannten Artenzahl durch die Entdeckung, dass unterschiedliche Beschreibungen in der Literatur sich in Wahrheit auf die gleiche biologische Art beziehen. In solchen Fällen wird der jüngere Name als Synonym eingezogen und ungültig, was dann vor allem in Fossiliensammlerkreisen manchmal zu Unmut führt, weil relativ bekannte Namen geändert werden müssen. Ein Beispiel ist z. B. die fossile Riesenholzwespe aus den Solnhofener Plattenkalken, die viele Sammler noch unter dem Namen Pseudosirex kennen, aber deren gültiger Name nun Myrmicium lautet.
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Frage: Was fasziniert Sie an heute lebenden Libellen am meisten?
Antwort: Was mich an Libellen begeistert ist die Kombination aus Größe, Farbenpracht, akrobatischem Flugmanövern, komplexem Paarungsverhalten (Paarungsrad) und den wasserlebenden Larven mit räuberischer Lebensweise sowie deren Verwandlung in die völlig anders aussehenden erwachsenen Libellen. Hinzu kommt der sehr gute und vollständige Fossilbericht, der bis in die Steinkohlezeit zurückreicht und in beispielhafter Weise eine Rekonstruktion der Libellenevolution erlaubt. Dies ermöglicht manchmal echte Sternstunden in der Forschungsarbeit, z. B. als ich zunächst die Evolution des komplizierten Paarungsapparates der Libellen rein hypothetisch rekonstruiert hatte und kurze Zeit später Fossilien entdecken konnte, die den postulierten Bindegliedern verblüffend glichen und somit meine Hypothese überzeugend bestätigt haben.
Fast jeder Biologe oder Paläontologe, der über die Evolution einer bestimmten Organismengruppe arbeitet, kann übrigens zahlreiche solcher fossilen Bindeglieder für seine jeweilige Lieblingstiergruppe anführen. Die Behauptung mancher Kreationisten, dass es keine „Missing Links“ gäbe, ist somit schlicht unwahr und völliger Unfug! Das Problem an der Diskussion ist, dass der Begriff des Bindegliedes von Kreationisten völlig falsch dargestellt wird: Kreationisten vermissen beispielsweise Bindeglieder zwischen Frosch und Hund, die es aber gerade wegen der Evolutionstheorie gar nicht geben kann, da diese beiden Tiere an völlig verschiedenen Enden des weitläufig verästelten Stammbaumes des Lebens sitzen. Der Hund stammt eben nicht von einem Frosch ab und daher ist ihr „Bindeglied“ keine Chimäre aus Frosch und Hund. Bestenfalls könnte man die letzte gemeinsame Stammart der Landwirbeltiere als eine Art „Bindeglied“ zwischen Frosch und Hund bezeichnen, da aus deren Aufspaltung eine Linie zu den heutigen Amphibien führt, während die andere zu den Kriechtieren, Vögeln und Säugetieren führt. Dieses gemeinsame Stammart von Frosch und Hund (die natürlich auch unsere Stammart ist) zeigt folglich weder die charakteristischen Merkmale eines Frosches (z. B. Sprungbeine und Schwanzlosigkeit), noch die eines Hundes (z. B. Haare und Reißzähne), sondern nur deren altertümliche Gemeinsamkeiten (z. B. Knochenskelett, Vierbeinigkeit, Linsenaugen, Gehirn und Herz, etc.). Ein echtes Bindeglied oder „Missing Link“ ist ein Organismus, der stammesgeschichtlich zwischen älteren Ahnenarten und jüngeren Nachfahrenarten steht und zwischen deren unterschiedlichen Bauplänen vermittelt, in dem er ursprüngliche Merkmale der Ahnenform mit einem Teil der fortschrittlichen Merkmale der Nachfahrenform kombiniert. Nur solche Bindeglieder sind aus Sicht der Evolutionstheorie zu erwarten und genau solche Bindeglieder gibt es wie gesagt sehr sehr häufig. Die genannten Kriterien erfüllt beispielsweise der weltberühmte Urvogel Archaeopteryx perfekt, und wenn Kreationisten sogar diesem Paradebeispiel immer wieder den Status als Bindeglied absprechen wollen, so müssten sie eben erst einmal genau definieren, was sie denn stattdessen ggf. als Bindeglied zwischen Dinosauriern (bzw. „Reptilien“) und Vögeln erwarten und akzeptieren würden.
Video "Eine Libelle im Schilf" bei Youtube
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Frage: Kann man die Zahl der Gattungen oder Arten von Insekten auf unserem „blauen Planeten“ schätzen?
Antwort: Es gibt sehr unterschiedliche Schätzungen, die zwischen mindestens 2 Millionen und bis zu 80 Millionen Arten schwanken. Diese Schätzungen basieren vor allem auf dem Artenreichtum in den tropischen Regewaldgebieten, die durch Brandrodung und Abholzung leider immer mehr zurückgehen.
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Frage: Sind noch viele große Rätsel über die Insekten von einst und heute zu lösen?
Antwort: Ja, es ist wie in den meisten anderen Naturwissenschaften auch: Jede Lösung eines Rätsels wirft dafür gleich wieder mehrere neue Rätsel auf.
Im Fossilbereich fehlen uns vor allem Funde aus der Frühzeit der Insektenevolution also aus dem Silur, Devon und dem Unteren Karbon. Weder der Übergang von Wasser- zum Landleben noch die Evolution der Flügel oder die Evolution der Holometabolie (vollständige Verwandlung über ein Puppenstadium) sind bislang durch Fossilfunde belegt, was manche der bereits erwähnten Kreationisten natürlich sofort wieder als vermeintlichen Beweis für die biblische Schöpfungsgeschichte sehen wollen. In Wahrheit ist es leider so, dass die Wahrscheinlichkeit der fossilen Überlieferung gerade bei Insekten nur sehr gering ist und nur unter günstigsten Umständen überhaupt stattfindet, einmal ganz abgesehen von dem seltenen Glücksfall diese Fossilien dann auch noch zu entdecken. Nur ein winziger Bruchteil der unzähligen Arten, die früher einmal gelebt haben, ist somit im Fossilbericht zu erwarten.
Aber auch bei den heute lebenden Insekten gibt es noch viele Rätsel zu lösen: Von den Millionen noch unbekannten Arten in den Tropenwäldern, bis hin zur Frage der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen manchen Großgruppen. Wie viel noch unbekannt ist, hat die Entdeckung einer neuen rezenten Insektenordnung, den Mantophasmatodea aus dem südlichen Afrika, vor wenigen Jahren deutlich vor Augen geführt. Wenn man bedenkt, wie viel auf unserem blauen Planeten noch zu erforschen ist, so kann man sich als Biologe und Paläontologe schon manchmal darüber ärgern, dass Unsummen an öffentlichen Fördermitteln und Investitionen in die Weltraumforschung fließen, angesichts der sehr geringen finanziellen Unterstützung für die Erforschung der Vielfalt des Lebens auf unserer Erde.
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Frage: Zahlreiche Tierarten sind mehr oder minder vom Aussterben bedroht – auch Libellen oder andere Insekten?
Antwort: Leider ja. Es sind sogar vor allem die Insekten, die betroffen sind. In der Öffentlichkeit wird natürlich eher das Verschwinden von Großtierarten wahrgenommen und betrauert, wie jüngst das Aussterben des chinesischen Jangtse-Flussdelfins. Dem gegenüber stehen jedoch geschätzte 130 Insektenarten, die tagtäglich durch die Vernichtung der Tropenwälder für immer verschwinden, und zwar in aller Regel bevor sie überhaupt wissenschaftlich bekannt werden konnten. In unserer Heimat sind insbesondere Insektenarten gefährdet, die spezielle Lebensräume wie saubere Wildbäche oder naturbelassene Moorlandschaften benötigen. Auch die Klimaerwärmung zeigt schon wahrnehmbare Folgen in der europäischen Insektenfauna: Kälteliebende Arten beginnen zu verschwinden und/oder werden durch eher mediterrane Formen verdrängt. Es besteht daher sogar die nicht unberechtigte Befürchtung, dass Krankheiten wie die Malaria auch in Deutschland wieder heimisch werden könnten.
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Frage: Halten Sie es für möglich, dass sich Insekten auf der Erde länger behaupten als Menschen?
Antwort: Die Antwort mag sie vielleicht überraschen, aber das glaube ich definitiv nicht und halte die beliebten Spekulationen über das angeblich unvermeidliche Aussterben der Menschheit für völligen Unsinn. In den Zeiten des Kalten Krieges wurde manchmal gesagt, dass nur Kakerlaken und Ratten einen Atomkrieg überleben würden. Es mag wenig schmeichelhaft erscheinen, aber hinsichtlich der potentiellen Überlebensfähigkeit sind wir Menschen wie die Kakerlaken und Ratten, nämlich Generalisten, die sich an fast alle Lebensbedingungen anpassen können. Hinzu kommt, dass wir durch unseren Verstand sogar in lebensfeindlichsten Regionen wie der Arktis oder der Wüste überleben können und uns von Fisch über Fleisch bin hin zu rein vegetarischer Kost von fast allem organischen Material ernähren können. Außerdem haben wir gelernt uns mittels Technik und Kultur den Mechanismen der natürlichen Evolution weitgehend zu entziehen. Der Mensch würde als Art daher meines Erachtens nur dann aussterben, wenn unser Planet durch eine kosmische Katastrophe völlig vernichtet würde. Ansonsten werden wir eher noch die Kakerlaken überleben als umgekehrt. Das Gegenargument, dass jede Art in der Erdgeschichte nach einiger Zeit wieder verschwunden ist, ist natürlich ein missverständlicher Unsinn, denn all die Millionen heutiger Arten sind Glieder einer ununterbrochenen Ahnen- und Nachfahrenkette, die bis zur Entstehung des Lebens vor über 4 Milliarden Jahren zurückreicht. Der Denkfehler bei diesem Argument besteht darin, dass Arten eben nicht nur durch Aussterben einfach verlöschen, sondern auch durch Aufspaltung in sich verändernden Tochterarten aufgehen können, in denen sie quasi weiterleben, ähnlich einer Zelle die sich in zwei Tochterzellen teilt. Eine Artspaltung ist allerdings bei der Menschheit auf Grund der Tendenz zur Globalisierung in absehbarer Zukunft auch nicht mehr zu erwarten, da hierfür eine geografische Isolation von Populationen notwendig wäre. Vielleicht kommt es dazu ja einmal in ferner Zukunft, wenn die Menschheit auch andere, weit entfernte Himmelskörper und Sternensysteme besiedeln sollte, aber das ist natürlich eher Science Fiction.
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Frage: Haben Sie in Ihrer Eigenschaft als Spezialist für Bernstein und fossile Insekten besondere Wünsche?
Antwort: Natürlich mehr Geld für Museen und für die Grundlagenforschung im Bereich Biosystematik, Stammesgeschichte und Biodiversitätsforschung! Es ist sehr bedauerlich, dass in den Kreisen der politischen Entscheidungsträger offenbar keinerlei Verständnis dafür vorhanden ist, dass dieser Teil der Biowissenschaften das unabdingbare Fundament für alle anderen Disziplinen darstellt. Es besteht die reale Gefahr, dass es für viele Tiergruppen in wenigen Jahren weltweit keine Fachleute mehr geben wird, die diese überhaupt noch zuverlässig bestimmen können. Moderne Methoden wie das DNA-Fingerprinting versprechen hier leider keine Abhilfe, denn auch diese setzen zur Ermittelung der DNA-Daten natürlich zunächst einmal einer sichere Bestimmung der untersuchten Arten voraus.
Außerdem wünsche ich mir, und das wird Sie angesichts meiner wiederholten Argumente gegen den Kreationismus kaum überraschen, dass die Akzeptanz für naturwissenschaftliche Erkenntnisse und eine naturalistische (also nicht übernatürliche) Erklärung der Welt in absehbarer Zukunft größer wird und vielleicht auch außerhalb der wissenschaftlichen Kreise das Bewusstsein dafür wächst, dass wir es nicht einigen Dogmatikern erlauben dürfen unsere moderne Gesellschaft auf einen wissenschaftsfeindlichen Weg zurück ins geistige Mittelalter zu schicken.
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Frage: Können Sie Lesern/innen dieses Interviews, die gerne mehr über Sie und Ihre interessante Arbeit erfahren wollen, Internetadressen oder Literaturhinweise nennen?
Antwort: Die beiden wichtigsten Adressen im Internet sind in jedem Falle Google und Wikipedia, denn über diese Seiten findet man fast alle Informationen, zumindest wenn man schon ungefähr weiß wonach man sucht. Ein modernes geflügeltes Wort besagt nicht ganz ernst gemeint: „Was Google nicht kennt, das existiert auch nicht“.
Ansonsten empfehle ich den Besuch folgender Webseiten zum Thema dieses Interviews, die allerdings fast alle in englischer Sprache sind:
Website der Internationalen Paläoentomologischen Gesellschaft: http://fossilinsects.net
Webseite der russischen Paläoentomologen: http://palaeoentomolog.ru/english.html
EDNA, eine Datenbank der fossilen Insekten: http://edna.palass-hosting.org/search.php
Paläoentomologischer Newsletter MEGANEURA: http://www.ub.es/dpep/meganeura/meganeura.htm
Mikko’s Phylogeny Archive mit Stammbäumen aller fossilen und rezenten Organismen: http://www.fmnh.helsinki.fi/users/haaramo
Webseite der Universität von Florida zu den größten lebenden Insekten: http://ufbir.ifas.ufl.edu/chap30.htm
Meine eigene Website zur Phylogenetischen Systematik fossiler und rezenter Libellen: http://www.bernstein.naturkundemuseum-bw.de/odonata/index.htm
Meine Checkliste der fossilen Libellenarten aus den Solnhofener Plattenkalken: http://www.bernstein.naturkundemuseum-bw.de/odonata/Solnhofen-Libellen.htm
Meine persönlichen Ansichten zu einem naturalistischen Weltbild:
http://de.wikipedia.org/wiki/Benutzer:Dr._G%C3%BCnter_Bechly
Und last-but-not-least möchte ich natürlich nicht versäumen auch den Besuch der Webseite des Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart empfehlen: http://www.naturkundemuseum-bw.de/stuttgart
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Die Fragen für das Interview stellte der Wiesbadener Journalist und Wissenschaftsautor Ernst Probst, Betreiber des Weblogs http://fossilien-news.blog.de